Wir solidarisieren uns mit den Besetzer*innen und dokumentieren hier ihre Stellungnahme vom 03.10.22!
I. Communique der Autonomen Stadtverwaltung Göttingen
The biggest problem facing direct action movements is that we don’t know how to handle victory. We always get taken by surprise by the speed of our initial success. We are never prepared for victory. It throws us into confusion.
– David Graeber, the shock of victory.
Ab heute ist die alte JVA in der Oberen-Masch-Straße besetzt. Es mag nun so erscheinen, als wäre die Besetzung der JVA nichts weiteres als eine kurzlebige Aktion versprengter Einzelpersonen, und als würden wir ein bisschen Aufmerksamkeit in den Zeitungen gegen eine weitere Repressionswelle tauschen. Wir Besetzende schreiben diesen Text in der Erwägung, dass durch unsere Besetzung der JVA tatsächlich Vieles zu gewinnen ist.
Da darf nichts falsch verstanden werden – dass wir geräumt werden, ist uns fast eine Gewissheit. Und dennoch sind wir da. Denn es mag zwar das kurzfristige Ziel, ein besetztes Gebäude in die Hand des Kiezes zu überführen, vergebens erscheinen. Doch der Kampf um das Gebäude kann uns mittelfristig ein ganzes Stück weit tragen.
Die alte JVA steht seit sehr langem leer, und gerade in den letzten Jahren versuchen Initiativen, die aus linken Göttinger Gruppen und der Nachbarschaft hervorgehen, in dem alten Gebäude einen sozialen und solidarischen Raum zu gestalten. Doch die Stadt hat andere Pläne: In die alte JVA soll ein neoliberaler Thinktank einziehen, das Gebäude soll für schlappe 50 000 Euro verkauft werden. Es gilt anzuerkennen, dass es hier nicht bloß um einen Interessenkonflikt zwischen der Stadt und der Nachbarschaft, dem Kiez geht, sondern um eine konkrete Ausformung von Gentrifizierung und rassistischer Verdrängungspolitik: der Konflikt um die alte JVA ist ein intersektionaler Konflikt.
Der Kiez um die Obere-Masch-Straße herum ist ein weniger wohlhabender, und migrantisch geprägter Teil der Stadt. Die Menschen, die hier leben, die ihr Leben hier gestalten, nehmen sich hier auch den Raum, den sie brauchen, sei es am Waageplatz, sei es durch die Etablierung der OM10. Das Soziale Zentrum wäre ein weiterer Teil der Aneignung des Stadtteils von den Menschen, die hier auch leben; eine solidarische Gestaltung eines Gebäudes in einem Stadtteil weniger privilegierter, entsprechend der Bedürfnisse und der Wünsche der Menschen unmittelbar vor Ort. Aber gerade in letzter Zeit häufen sich rassistische Polizeikontrollen am Waageplatz – der Stadtteil soll schick gemacht werden für die, die mit ihm eigentlich nichts zu tun haben, und sowieso schon alles haben, für die, die weiß, wohlhabend, gebildet sind. Für die, die dem kapitalistischen, deutschen Ideal entsprechen. Der Verkauf der JVA an Traffohub ist damit eine weitere Eskalation der Verdrängung von prekär-gestellten Menschen aus ihrem eigenen, von ihnen geprägten Kiez. Ein weiterer Höhepunkt der Gentrifizierung im Sinne der kapitalistischen ‘deutschen Leitkultur’.
Über das Kiez hinaus kann es insgesamt für Göttingen, und damit auch für uns als linke Szene in Göttingen der Anfang einer Veränderung bedeuten, wenn krass kapitalistische Strukturen einen großen Raum mitten in der Stadt gewinnen.
In Solidarität mit dem Kiez und dem Sozialen Zentrum, und mit dem Konflikt, den sie führen, haben wir die ehemalige JVA besetzt. Unser Anspruch ist hier klar, eine Brücke zwischen den Leuten im Kiez und der linken Szene Göttingens zu schlagen. Hierfür wollen wir mit der besetzten JVA einen Ort der Begegnung, einen Ort der unmittelbaren Öffentlichkeit erschaffen, an dem sich die Konflikte des Stadtteils und die Kämpfe, die wir als Linke führen, ganz konkret eine Sichtbarkeit zu verleihen: Wir wollen die JVA zu einem Kristallisationspunkt machen.
Was bedeutet es für diesen Konflikt, und für uns als Linke, dass es (zumindest für eine kurze Zeit) einen solchen Kristallisationspunkt mitten in der Stadt gibt?
Wir handeln aus Solidarität mit dem Kiez heraus, sind aber selbst nicht Teil dessen, und wollen uns nicht anmaßen, hier für andere zu sprechen. Wichtig ist gerade deshalb, dass wir den Kampf, der um das Gebäude herum entsteht, gemeinsam mit und für die Anwohner:innen führen – zugleich aber unsere eigene linksradikale Perspektive nicht untergeht.
• Die Besetzung bedeutet in vorderster Linie, dass der linke Kampf gegen Gentrifizierung, und in Erweiterung dessen gegen das Kapital an sich, nun an Sichtbarkeit gewinnt – wo wir sonst jenseits unserer Demos, unserer medialen Solidaritätsbekundungen zu oft in der Unsichtbarkeit verharren. Das Stadtbild an diesem Ort aktiv zu prägen kann eine Ermächtigung sein; es bietet uns die Möglichkeit, Kämpfe sichtbar zu machen, wo sie sonst schattenhaft verbleiben.
• Einen Ort des Kampfes kann zugleich eine temporäre Zone eröffnen, in welchem wir uns in einem gelebten, kämpferischen, linken Kontext begegnen, an dem viele Menschen in Göttingen eine Bindung zu einem besetzten, angeeigneten Ort schließen können – einen Ort, wo unser Kampf und unsere Begegnungen körperlich werden. Hierfür ist in erster Linie notwendig, dass auch viele Menschen vorbeikommen, dass es Leute gibt, die Lust haben den Ort mit zu beleben und zu prägen; bei der Mahnwache einen Kaffee trinken, die Hauswände anmalen, sich abends an die Feuertonne sitzen, … Solches Beleben der JVA könnte des Weiteren dazu beitragen, die Cops zu verwirren, und die Illegalität unserer Aktion zu normalisieren.
• Mit der Erschließung und Erarbeitung eines Ort des Konflikts zeigen wir uns selbst, dass unser Widerstand auch viel direkter möglich ist; und bewegen uns (auch in diesem Kampf) aus unseren Szene-Räumen, unseren allzu gewohnten Demonstrationen hinaus, greifen nach unseren Utopien mitten in der Göttinger Innenstadt.
Dieser Ort des Kampfes wird uns letzten Endes von Broistedt und ihrem #Polizeiproblem entrissen werden. Eine Räumung zu verhindern ist nicht realistisch, darüber müssen wir uns im klaren sein. Dennoch können wir ermächtigt aus der Situation herausgehen, weil das Anrücken von den Cops uns um einen konkreten, sichtbaren Kampf herum sammeln kann, weil wir uns gemeinsam als Linke dem Staat und dem Kapitalismus in den Weg stellen können, und insgesamt an einer kollektiven widerständigen Erfahrung teilhaben können. Bei einer Räumung wird alles gefragt sein, und es sollte auch alles legitim sein. Sei es Lautstärke, Sitz- oder Kletterblockaden, Gesa-Support, oder andere Formen des Widerstands.
Schaffen wir es, gemeinsam mit dem Kiez, über unsere Strukturen und Organisationen hinweg, in den Tagen vor und während der Räumung spontan und kraftvoll einen sichtbaren Widerstand auf die Straße zu tragen; durch direkten Austausch und gemeinsames Prägen eines Ortes mit anderen, an diesen Ort gebundenen Menschen, können wir uns so weit ermächtigen, dass der Kampf gegen die Gentrifizierung nach der Räumung weitergeführt wird, und wir als Linke an Initiative gewinnen, endlich in Bewegung kommen.
Die Kraft unserer Besetzung der JVA liegt weniger in der Möglichkeit, kurzfristig der Stadt ein Gebäude zu entreißen, sondern vielmehr darin, dass wir unsere Szene-Gebundenheit auflockern und über die Fragmentierung der kapitalistischen ‘Gesellschaft’ hinweg Gemeinschaften, Vernetzungen schließen, sowie dass wir uns selbst als Szene ermächtigen. Und es besteht die Chance, dass wir letzten Endes mittelfristig auch schaffen, Ziele tatsächlich zu erreichen. Solche Ziele wären etwa das Wiedergewinnen verschiedenster Aktionsformen, Orten der Gentrifizierung effektiv das Leben schwer zu machen, weitere Besetzungen zu ermöglichen und die Kraft zu haben, sie zu unterstützen, weitere Orte tatsächlicher und unmittelbarer Begegnungen zu schaffen, und schließlich die Stadt dazu zu zwingen, ihre kapitalistische Stadtpolitik aufzugeben.