Wir sind im Bündnis “Lager auflösen jetzt!” und dokumentieren hier den Offenen Brief vom 07.04.20. Auf den Fotos sind Zitate von Bewohner*innen aus Geflüchteten-Unterkünften.
An
Rat der Stadt Göttingen, Kreistag Göttingen-Osterode,
Gesundheitsamt, Verwaltung und Parteien
„Amt für Soziales verweigert die Belegung freier Zimmer aus überbelegten Zimmern.“ (Hannah-Vogt-Straße)
Aus den Sammelunterkünften Carl-Giesecke-Straße, Albrecht-Thaer-Weg, Hannah-Vogt-Straße, Rosenwinkel und Schloss Wollershausen haben wir in den letzten Tagen von dort untergebrachten Geflüchteten Berichte und Antworten auf unsere Fragen zu ihrer Situation erhalten. Fragen, die wir uns als Bündnis „Lager auflösen jetzt!“ in Zeiten der Corona-Pandemie stellen. Einige Zitate von Bewohner*innen (s.u.) haben wir z.K. bereits an Türen am Neuen Rathaus, dem Gesundheitsamt sowie den Parteizentralen von SPD und Grüne geklebt.
Wir wenden uns an Sie, weil Ihnen die rechtliche bzw. politische Verantwortung für die Sicherheit aller hier lebenden Menschen ohne Unterschied von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus obliegt. Mit aller Dringlichkeit machen wir Sie auf die – durch die Corona-Pandemie noch zugespitzt – unhaltbaren Zustände in den Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete und Obdachlose aufmerksam. Wir erwarten von Ihnen sofortiges Handeln und die Auflösung der Sammelunterkünfte, da nicht nur die Würde dieser Menschen sondern auch ihre Gesundheit unmittelbar bedroht sind.
* Umsetzung der derzeit gebotenen Abstands- und Hygieneregeln schier unmöglich.
Geflüchtete aus den oben genannten Sammelunterkünften beschreiben, dass immer noch 2-3 Personen in einem Zimmer auf engstem Raum untergebracht sind. Wiederholt werden dabei Menschen unterschiedlichster Herkunft, Gebräuche und Bedürfnisse willkürlich zusammengepfercht. Die Geflüchteten berichten übereinstimmend, dass sie in der Regel keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Bewohner*innen haben. Kleineren Familien werden mitunter noch einzelne alleinstehende Personen in die gemeinsame Wohnung zugewiesen. In der Carl-Giesecke-Straße müssen sich 10 Personen eine Küche teilen. Und bis zu 6 Personen müssen sich ein Bad und eine Waschgelegenheit teilen.
* Aufklärung und Schutz hinsichtlich der Corona-Pandemie vielerorts sehr mangelhaft.
Es gab und gibt bis heute kaum Gelegenheit für die Bewohner*innen, ihre Fragen und Unsicherheiten beantwortet zu bekommen. Wir betonen: Eine einmalig erfolgte oberflächliche Aufklärung ist der sich ständig verändernden Pandemiesituation in keiner Weise angemessen. Und auch das zum Teil erfolgte Aushängen von Zetteln kann diesen Mangel nicht beheben.
Es gibt weder Angebote für Schutzmasken oder Desinfektionsmittel noch Informationen über konkrete Hilfeangebote im Krankheitsfall. Bei der Suche nach Informationen über den Ansteckungsweg, die Symptome und die Gefährlichkeit des Virus sind die Geflüchteten beinahe vollständig auf sich allein gestellt. So informieren sie sich im Internet mit all den seriösen und unseriösen Quellen, die hier kursieren.
* Kontrollen ersetzen Angebote und Betreuung
Erschwert wird die Lage der Betroffenen durch den Abzug der meisten Ansprechpersonen und die alternativlose Einstellung von Freizeit- und Bildungsangeboten. Eine „Betreuung“ findet derzeit fast ausschließlich durch Kontrollen hinsichtlich der Einhaltung von Verboten statt. Die Verschärfung von Konflikten untereinander ist eine Folge. Das ausgesprochene Besuchsverbot und dazu die Schließung der Gemeinschaftsräumen zwingt die Bewohner*innen geradezu, Ausweichmöglichkeiten vor den Häusern zu nutzen. Diese Versuche, der Enge in den Zimmern zu entkommen, werden mit Polizeieinsätzen aufgelöst.
In dieser Situation von Anordnungen, Verboten, Strafandrohungen, Enge, Halbwissen, Gerüchten und ohne konkrete Hilfeangebote macht sich besonders unter den Bewohner*innen von den Sammelunterkünften zunehmend Angst und Panik breit. Solange die Geflüchteten auf engstem Raum in den Sammelunterkünften leben müssen, setzen Sie sie der Gefahr einer sich rapide ausbreitenden Ansteckung mit dem Corona-Virus aus, wie sie aus Pflegeheimen – auch hier in Göttingen – bereits bekannt sind. Diese unhaltbaren Zustände darf es keinen Tag länger geben!
> Konsequentes Vorgehen erforderlich statt politischen Taktierens
Wir sehen hier keine Zeit mehr für weitere Debatten oder politisches Taktieren. Stattdessen erwarten wir von Ihnen jetzt ein konsequentes Vorgehen: Die noch nicht belegten Zimmer und Wohnungen in der Hannah-Vogt-Straße müssen sofort zum Ausweichen geöffnet werden! Die Sammelunterkünfte mit der Unterbringung von mehreren Menschen in einem Zimmer und auf engem Raum müssen schlichtweg alle sofort aufgelöst werden! Naheliegende Vorschläge für Raumbeschaffung gab es auch in den letzten Wochen zahlreiche: Leerstehende Wohnungen und Häuser müssen jetzt geöffnet, beschlagnahmt oder auch enteignet werden! Hotelzimmer müssen angemietet und geöffnet werden!
> Zuteilung von Geflüchteten in Griechenland vom Land Niedersachsen einfordern
Gleichzeitig herrscht eine hochbedrohliche Situation in einem Lager wie Moria auf der Insel Lesbos. Dort sind mehr als 20.000 Flüchtlinge auf einem für weniger als 3000 Menschen vorgesehenen Platz mit kaum vorhandener medizinischer und hygienischer Versorgung eingepfercht. Ein Massensterben kann nur verhindert werden, wenn auch dieses Lager sofort aufgelöst wird. Deshalb muss die Stadt jetzt auch die notwendigen Wege gehen und den Ratsbeschluss umsetzen, der Göttingen zum Sicheren Hafen erklärt. Sie muss jetzt vom Land Niedersachsen die Zuteilung von Flüchtlingen aus griechischen Lagern einfordern!
> Herr Köhler, Frau Broistedt, Frau Munke und die Politik
Wir erwarten von Ihnen, Herr Köhler als Oberbürgermeister, Frau Broistedt als Sozialdezernentin und Frau Munke als Leiterin des Wohnungsamtes sowie vom Gesundheitsamt, dass Sie Ihre Verantwortung wahrnehmen und die genannten Schritte umsetzen! Von Ihnen als Politiker*innen in Stadt und Landkreis erwarten wir, dass Sie Ihre menschenrechtlich gebotenen Aufgaben jetzt erfüllen!
Am vergangenen Sonntag, dem 05.04.20, haben sich deutschlandweit und auch hier in Göttingen Tausende Menschen trotz der bestehenden Ausgangsbeschränkungen mit vielfältigen Straßenaktionen für eine Auflösung der Flüchtlingslager weltweit und auch hier eingesetzt. Viele Aktionen sind im Internet unter dem Hashtag #LeaveNoOneBehind einsehbar. Wir stellen unseren Offenen Brief auch in diesen Zusammenhang.
Zitate von Bewohner*innen der Unterkünfte
Carl-Giesecke-Str. April 2020: „Mindestens zwei bis drei Personen pro Zimmer, 10 Personen pro Etage und Küche.", „Social Distancing ist auf dem engen Raum nicht möglich.", „Es gibt ein Besuchsverbot als Sicherheitsmaßnahme, das ist alles. Es wurden keine Informationen über Corona gegeben. Es gibt nur einen Zettel auf dem steht, dass es Besuchsverbot gibt."
Hannah-Vogt-Str. April 2020: „Es gibt etliche leerstehende Zimmer und Wohnungen", „Amt für soziales verweigert die Belegung der freien Zimmer aus überbelegten Zimmern."
Albrecht-Thaer-Weg April 2020: „Sie sagen, wenn es schlimm wird, würden sie einen Krankenwagen rufen.“, „Es arbeiten kaum noch Leute in der Unterkunft.“, „Die meisten glauben nicht, dass Krankheitsfälle ernst genommen werden,"
Hannah-Vogt Str. / Albrecht-Thaer-Weg / Carl Giesecke Str. / Rosenwinkel: „Es gibt keine Masken und kein Desinfektionsmittel!"