Im Anschluss an die seit 1973 jährlich von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Stadt Göttingen am 9. November organisierten Gedenkstunde am Mahnmal der Synagoge fand 2021 erstmals ein Mahngang statt.
Nach Ende der Gedenkstunde hatten Teilnehmende wie immer Gelegenheit, eine zeitlang in Stille zu sein. Mit einem Lied von Esther Bejarano wurde dann übergeleitet, an dem Mahngang teilzunehmen. Der Mahngang unter dem Motto „Wer stoppt die Faschisten?“ war initiiert vom Verband Jüdischer Studierender Nord Göttingen, dem Roma Antidiscrimination Network und der A.L.I. Rund 500 Teilnehmende zogen vom Platz der Synagoge zunächst in Stille, später lautstark als Demo in die Innenstadt, wo am Gänseliesel die Skulptur der Tür der Synagoge von Halle abgebaut wurde, um an anderen Orten an das antisemitische Attentat 2019 in Halle zu erinnern und zum antifaschistischen Widerstand aufzurufen.
Wir solidarisieren uns mit den Anliegen der jüdischen Hochschulgruppe und dokumentieren im folgenden den Redebeitrag von Nui (VJS Nord Göttingen). Die Einladung, am Mahngang teilzunehmen, hat Nui kurz vor Ende der Gedenkstunde ausgesprochen, den Redebeitrag dann zum Beginn des Mahngangs, ebenfalls noch am Platz der Synagoge.
Alle Fotos sind von Links Unten Göttingen.
Guten Abend, wie sie vielleicht schon gehört habt gibt es nach der Gedenkstunde der Stadt noch einen Mahngang der zu verschiedenen Orten führt mit der Frage im Hinterkopf, wer stoppt die Faschisten? Der Mahngang ist initiiert vom Verein jüdischer Studierender Nord wo ich dazu gehöre, dem Roma Center und der Antifaschistischen Linken kurz Ali. Uns war es wichtig auch noch ein Programm zu haben, welches sich mehr aufs heute bezieht und unseren Betroffenen Stimmen mehr Raum gibt. So werden wir nach dem Kaddish das Jacqueline nachher mit uns sprechen wird mit dem Lied Mir leben eijbig, gesungen von Esther Bejarano aleha hashalom den Uebergang gestalten. Das Lied ist das Finale einer Revue “Mojsche halt sich”, die 1943 im Wilnaer Ghetto komponiert und aufgeführt wurde. Im September 1943 wurde das Ghetto zerstört und seine Bewohner_innen ermordet. Lejb Rosenthal hat es komponiert und wurde 1916 geboren und 1944 in einem Arbeitslager in Kloga/Estland erschossen. Das Lied “Mir leben eijbig” ist ein starkes Statement dass wir als Jüd_innen in einer brennenden Welt, voller Antisemitismus und Rassismus trotz alledem immer noch leben und überleben werden.
KADDISH UND LIED
Ich erinnere mich noch genau wie ich das erste Mal vor diesem Denkmal war, welches da steht wo früher vor 1938 eine Synagoge stand hier am Platz der Synagoge, weil ich auf dem Weg zu einer Veranstaltung in der OM10 an einer zu der Festung Europa war. Die OM10 ist ein Haus welches sich sehr stark mit praktischer Solidarität mit Menschen auf der Flucht, Bleiberecht und Antirassismus beschäftigt Ich hatte Hunger und hab mich auf eben diese Treppen gesetzt um zu Essen und das Denkmal angeschaut. Es erinnerte mich an einen Weihnachtsbaum und ich war verwundert darüber, wo genau die Verbindung zum den November Pogromen und der Shoa war. Ich habe es nicht verstanden, ich verstehe es heute nicht, auch wenn ich mittlerweile weiss dass es Davidsterne sind. Ich glaube mein Reaktion darauf ist auch ein Sinnbild dafür wie das Gedenken in Deutschland uns junge Jüd_innen nicht einbezieht und unsere Perspektiven nicht sichtbar macht. Für mich sind Erinnerungsdenkmäler kalte Orte, Orte die für weiss-christliche Deutsche gemacht wurden, Orte die sich nicht jüdisch anfühlen, Orte die so tun, wie wenn es Menschen wie mich nicht geben würde. Für mich sind Synagogen lebendige Orte, nicht Leerstellen in Stadtplänen. Das zeigt auch die Stimmung des Anlasses vorher, weil ich fühle mich am 9.11 nicht traurig oder andächtig. Ich wütend und ich möchte euch gerne erzählen was mich so wütend macht.
Jahr für Jahr werden Jüd_innen angefragt hier am Platz der Synagoge zu reden, am liebsten wenn wir unsere eigene Geschichte zur Schau stellen, damit alle sehen wie furchtbar es meinen Vorfahren erging,wir dann aber Sichtbar machen dass es uns trotzdem noch gibt und dass wir Euch vergeben haben. Aber ich habe nicht vergeben, ich bin wütend und ich habe es satt jedes Jahr am 9.11 exotisiert und vereinfacht zu werden. Ich habe es satt jedes Jahr dafür zu dienen, dass oberflächliches Gedenken stattfindet und die selben Menschen die nette Reden halten am nächste Tag trotzdem Abschiebungen gut heißen von Rom_njas in Göttingen und anderswo, Rom_njas und Sinti_zze die Vorfahren hatten die in den selben KZ waren wie meine Vorfahren. Ich weiß auch nicht warum wir am 9.11 gedenken wo tausende Menschen deportiert wurden und weiss-christliche Deutsch in vielen Städten geklatscht haben als Synagogen brannten, oder es mindestens hinter vorgehaltener Hand ganz gut fanden. Ich will Euch kurz was zu historischer Kontinuität erzählen: 9. November 1923 – war der Hitler-Ludendorff-Putsch in München: Der Nationalsozialismus wird erstmals international wahrgenommen.
Adolf Hitler, der bis dahin in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannte Parteichef der NSDAP, unternimmt einen Putschversuch gegen die demokratische Reichsregierung. Das Unternehmen, das 16 Todesopfer fordert, scheitert bereits nach wenigen Stunden vor der Münchner Feldherrnhalle. Als er zehn Jahre später an die Macht gelangt erklärt er den 9. November zu einem Gedenk- und Feiertag. An ihm finden während der NS-Diktatur alljährlich staatliche Trauerfeiern statt, bei denen der sogenannten „Blutzeugen der Bewegung“ gedacht wird. Wir haben also einen Tag genommen der bereits zu Zeiten des Nationalsozialismus als Trauertag verwendet worden ist. Wer stoppt die Faschisten?
Heute ist nicht mein Gedenktag, es ist der Gedenktag derer die wenigstens historisch, aber leider allzuoft auch heute dafür Verantwortlich sind dass es immer noch Rassismus und Antisemitismus gibt. Und wenn ihr jetzt denkt das ist alles lange her, dann erinnere ich Euch an Hoyersverda in den 90ern an brennende Asylheime und die Menschen die da auch davor standen und klatschten und an eine deutsche Regierung die als Reaktion darauf das gesamte Asylsystem noch repressiver gemacht hat. Ich frage mich dann: Wer stoppt die Faschisten?
Nichts ist gut, im Gegenteil vieles wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Mehr rechte Gewalt, ein immer repressiveres Asylsystem, jede Woche neue Antisemitische Gewalt, keine Anerkennung von rassisticher Gewalt an Sinti*zze und Romn*jas oder des Poramjos, täglich Abschiebungen irgendwo in Deutschland, Polizei, Militär und Parlamente voller Menschen die offen rechtes Gedankengut zur Schau tragen und eine EU Aussengrenze wo gerade jetzt in diesem Moment Menschen erfrieren und sterben um die Festung Europa zu verteidigen. Wir alle sind mitverantwortlich für dieses unglaublich Versagen und die Tatsache wie Rassismus, Christlich-weisse Vorherschaft und Antisemitismus ein grundfester Bestandteil von Deutschland sind. Ich frage Euch ernsthaft Wer stoppt die Faschisten?
Ich habe viel Solidarität mit allen anderen migrantischen Personen und Betroffenen von Rassismus und Antisemitismus in meinem Herzen. Aber es fällt mir besonders schwer mit anzuschauen wie dieses Land mit Romn_ja umgeht und uns Jüd_innen als Vorhängeschild ihrer angeblichen Wiedergutmachung benutzen. Warum wurde auf diesem Platz vor uns zur Gedenkfeier nicht auch jedes Jahr eine Person oder eine Gruppe eingeladen die vom Porajmos dem industriellen Massenmord an Sinti_zze und Romanj_as betroffen ist? Wo bleiben die Schweigeminuten, das Gedenken und die Wiedergutmachungszahlungen? Wo die Aufnahme und Sicherheit? Solange es kein Bleiberecht für alle Romn*ja und Sinti*zze gibt gibt es keine Wiedergutmachung. Nie wieder gilt für alle! Und ich frage erneut: Wer stoppt die Faschisten?
Ich bin es Leid. Ich bin wütend. Immer wieder über diese Dinge sprechen zu müssen, meine Identität von der Gesellschaft bestimmen zu lassen, welche mir sagt: Hey du bist ein jüdischer Mensch, erzähl uns was von Antisemitismus und dem Holocaust. Nein! Meine migrantische und jüdische Identität ist viel mehr als das, ihr müsst euch selbst mit diesen Dingen auseinandersetzen. Sich mit Betroffenen zu solidarisieren, und ihre Perspektiven wahrzunehmen, bedeutet nicht nur diese als Aushängeschilder der eigenen Genugtuung zu verwenden, um Hauptsache sich selbst als weniger problematisch darzustellen. Das passiert auch viel zu oft an antifaschistischen Demos. Sondern es erfordert auch aktive eigene Arbeit an eigenen rassistischen und antimsemitischen Mustern zu leisten, sei es auch im eigenen Freundeskreis, auf der Arbeit, in deiner Politgruppe oder eben in der Politik und auf offener Straße und es bedeute unsere Stimmen als Jüd_nnen, als BIPoC, als von Rassismus und_oder Antisemitismus Betroffenen zu verstärken und ernst zunehmen. Es bedeutet mit uns Schulter an Schulter zu kämpfen. Also wer stoppt die Faschisten?