Die AG Geschichte des Forum Waageplatz-Viertel hatte am 29.09.24 zu einem Rundgang durch’s Viertel zur Geschichte und mit Geschichten eingeladen. Vor der OM10, bei den Stolpersteinen am Haus der Obere-Masch-Straße 10a, gab es einen ausführlichen Beitrag in Gedenken an die Familie Asse und Familie Meyerstein. Kurze Auszüge geben wir hier wieder und empfehlen, den ganzen Artikel “Das Maschviertel zur Zeit des Nationalsozialismus” mit Fotos und Quellenangaben auf der Seite des Forums zu lesen!
“Die Obere-Masch-Straße 10 war früher ein Wohnhaus der jüdischen Gemeinde. Es war bescheiden eingerichtet und diente auch als Altersheim. Heute erinnern Stolpersteine vor der 10A daran, dass Fanny und Cäsar Asser und die Familie Meyerstein hier gelebt haben. Paula und Hugo Meyerstein mit ihren vier Kindern, Ludwig, Erich, Hertha und Georg.
Paula Meyerstein (geb. Jaretzki ) war 1890 in Posen geboren worden. Sie heiratete 1919 den Viehhändler Hugo Meyerstein und zog nach Göttingen. Die Familie wohnte zunächst in der Roten Straße, wo Hugo Meyerstein eine Viehhandlung besaß. Dort hatten sie mit finanziellen Problemen zu kämpfen, vor allem auch durch den gegen jüdische Kaufleute ausgeübten Druck und durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise. 1933 mussten sie dann in die Obere-Masch-Straße 10A umziehen. In direkter Nachbarschaft stand die Synagoge. Die im neuromanischen Stil gebaute Synagoge wurde im Jahr 1895 eingeweiht. Nur 43 Jahre später wurde sie im Novemberpogrom in der Nacht des 9. November 1938 zerstört. Maßgeblich beteiligt; war der Oberbrandmeister der Göttinger Feuerwehr, der Benzinkanister zur Synagoge gefahren hatte. Alle Löschversuche wurden unterbunden, Fotografien verboten. Am Tag darauf wurde unter Anwesenheit vieler Schaulustiger der westliche Teil der Ruine gesprengt, und die Synagoge vollständig zerstört. Mitglieder der SA und SS stürmten Geschäfte und Wohnungen jüdischer Familien, zerstörten deren Eigentum, misshandelten und verhafteten sie. In der Goetheallee wurden die Wohnungen von Ludwig und Margret Löwenstein und von Gustav und Amalie Rosenmeyer völlig verwüstet, Schmuck entwendet und Gustav Rosenmeyer schwer verletzt. Bei dem Brand der Synagoge waren auch die Wohnungen von Familie Asser und Familie Junger zerstört worden. Sie kamen gerade mit dem Leben davon. Heinz und Else Junger flüchteten in der Nacht mit ihrem Sohn Denny, der erst zwölf Tage alt war, in das Krankenhaus Neu Maria Hilf. Heinz, Else und Denny Junger wurden am 26. März 1942 deportiert und gelten seitdem als verschollen.
Georg Meyerstein, der jüngste der Familie wurde schon unmittelbar nach dem Novemberpogrom von seinem Lehrer in der Lutherschule vom Unterricht ausgeschlossen, eine Maßnahme, die kurz darauf für alle jüdischen Schülerinnen und Schüler durchgesetzt wurde. Ein Mitschüler erzählte später, dass als Georg am Tag nach der Niederbrennung der Synagoge „verspätet, bleich und übernächtigt“ seine Klasse betrat, ihn der Lehrer aufgefordert hat, sofort wieder nach Hause zu gehen und sagte, er brauche überhaupt nicht mehr wiederzukommen. Ab Januar 1940 wurde er zusammen mit neun weiteren Kindern vom jüdischen Lehrer Heinz Junger privat unterrichtet. Dieser wohnte mit seiner Familie im Gemeindehaus, im Anbau an die Synagoge in der Unteren-Masch-Str.
Unter den Schüler*innen waren auch Kurt und Lissy Asser, die Kinder des Synagogendieners Julius Asser und von Jenny Asser, die ebenfalls mit ihrer Mutter, Bertha Fernich für kurze Zeit im Gemeindehaus in der Unteren-Masch-Str. 13 wohnten. An Julius und Jenny Asser erinnern die Stolpersteine vor dem Haus Papendiek 26. Die Eltern von Julius Asser, Fanny und Cäsar lebten seit 1933 in der Oberen-Masch-Str. 10A. Cäsar Asser besaß in Göttingen die Rohproduktenhandlung C. Asser, handelte mit Altmetallen und arbeitete nebenberuflich als Totengräber für die jüdische Gemeinde. Sie wurden im Juli 1942 nach Theresienstadt verschleppt und ermordet. Sie wurden beide 72 Jahre alt.
Am 26. März 1942 wurde Paula Meyerstein zusammen mit ihrem Mann und zwei ihrer Söhne Ludwig und Georg, die zu der Zeit erst 22 und 14 Jahre alt waren, über das Sammellager Hannover-Ahlem weiter ins Warschauer Ghetto deportiert. Ihrem 18-jährigen Sohn Erich war mit nur 15 Jahren die Flucht nach England gelungen. Auch seine Schwester Hertha überlebte den nationalsozialistischen Terror. Die Schwestern Else und Frieda Reichmann, die einige Jahre in der Oberen-Masch-Str. 10A und der Unteren Masch-Str. 23 gewohnt hatten, wurden an diesem Tag ebenfalls deportiert und anschließend ermordet. Die Familie Reichmann war 1912 in das Haus Nr. 23 gezogen, das sich bis 1935 in ihrem Besitz befunden hatte. Die Reichmann Schwestern, Paula Meyerstein und die über hundert weiteren Jüd*innen, die am 26. März 1942 aus Göttingen deportiert wurden, starben entweder in Warschau oder wurden mit den anderen Überlebenden des Ghettos in den Vernichtungslagern ermordet.
[…] Die Geschichte des Viertels ist verwoben mit dem Heute. Wir sind Teil der Geschichte und finden uns in einer Zeit wieder, die auch von Kriegen, Gewalt gegen Frauen und Transpersonen, dem Erstarken rechtsextremer Kräfte und ökologischen Krisen geprägt ist. Die Erscheinungsformen faschistischer und nationalistischer Ideologien wandeln sich, tragen aber doch den gleichen Kern. Dies zeigt, wie wichtig eine aktive Form des Erinnerns und Gedenkens ist, verbunden mit einem aufmerksamen Blick auf die Gegenwart und Zukunft. Selbstverwaltete Organisationen und Projekte im Maschviertel, wie die OM10, zeigen mit ihrer kontinuierlichen, antifaschistischen Praxis, wie aktives Gedenken aussehen kann. Auch starke Nachbarschaften, in welchen Nachbar*innen einander kennen, sich unterstützen, und gemeinsam gegen Gewalt handeln, bieten die Grundlage für eine vielfältige und selbstorganisierte Gesellschaft.”