Offener Brief
Petra Broistedt, Stadt Göttingen, Dezernat C – Kultur und Soziales
Sehr geehrte Frau Broistedt,
manchmal fragen wir uns angesichts Ihrer Äußerungen, ob Sie diesen orwellschen Neusprech wirklich glauben. Schon beim Kampf um die Schließung der Siekhöhe wurde deutlich, dass Sie das Konzept der Massenunterkünfte tatsächlich bevorzugen, obwohl die Stadt Göttingen seit Mitte der 80er Jahre immer versucht hat, Geflüchtete in Wohnungen unterzubringen. Ja, es stimmt wohl, dass dies 2015 kurzfristig nicht möglich gewesen ist. Aber inzwischen ist viel Zeit vergangen und immer noch verteidigen sie die „Gemeinschaftsunterkünfte“ und halten daran fest.
Sie waren gegen die Schließung der Siekhöhe und haben dafür getrickst, getäuscht und gedroht. Wir können uns noch gut an den Sozialausschuss erinnern, in dem Sie androhten, dann die Geflüchteten wieder in Sporthallen unterzubringen. Nur durch den öffentlichen und politischen Druck mussten Sie die Siekhöhe dann doch schließen. Der von allen Seiten geforderte Wohnungsbau dagegen lässt auf sich warten.
Die Siekhöhe ist nun zwar Geschichte, aber es gibt immer noch massive Kritik an der Unterbringungssituation der Geflüchteten in Göttingen und überall, seit Corona auch noch intensiver. Aber von Massenunterkünften wollen Sie nichts hören. Wir haben keine Massenunterkünfte, sagen Sie, wir haben Gemeinschaftsunterkünfte. Dieses Wort müssen wir besonders betonen: Ge-mein-schafts-unterkünfte!
Frau Broistedt, diese Wortschöpfung stammt aus 1982. Damals wurde das Asylverfahrensgesetz verabschiedet (verbrochen) und es wurde lange überlegt, welches Wort sich für die zentrale Unterbringung von Geflüchteten eigne. Sammelunterkunft? Asyl-Sammellager? Hört sich alles nicht so gut an oder? Daher entschied man sich damals für den Begriff Gemeinschaftsunterkunft. Das hört sich doch gleich viel besser an, so nach Familie und Geborgenheit, finden Sie nicht?
Was ist eine Gemeinschaft? Das Zusammensein, – leben in gegenseitiger Verbundenheit, steht dazu im Duden. Oder Gruppe von Personen, die durch gemeinsame Anschauungen o.Ä. untereinander verbunden sind.
In der Realität, trifft genau das aber alles nicht (!) zu.
In der deutschen Rechtsprechung wird eine GU unter Massenunterkünfte subsumiert, genau so wie im Infektionsschutzgesetz. Der Gesetzgeber stellt einen Zusammenhang her zwischen der (zumeist dichten) Belegung dieser Einrichtungen und einer erhöhten Ansteckungsgefahr. Charakteristisch sei auch der stetige Wechsel der Belegung sowie Gemeinschaftstoiletten und fehlende Rückzugs- und Abgrenzungsmöglichkeiten. Außerdem existiert ein eigenes ex- oder internes Regelwerk, dass die individuelle Freiheit der Betroffenen einschränke. Entscheidend ist ein unfreiwilliger gesteigerter gegenseitiger Kontakt. Typisch ist auch das Fehlen von Briefkästen. (Alles nachzulesen: Pflichten der Gesundheitsämter – 15.10.2015; Publicus, der online-Spiegel für das öffentliche Recht)
Also doch – Massenunterkünfte. Rechtlich und politisch ein völlig zutreffender Begriff, den sie aber als Lüge ausmachen. Und jetzt mal ehrlich Frau Broistedt, Europaallee = 280 Plätze, Zietenterrasse = 174 Plätze, Albrecht-Thaer-Weg 150 Plätze, da reden Sie noch von Gemeinschaftsunterkunft? Wir fänden es super, wenn Sie dort mal einziehen, sich ein Zimmer mit einer fremden Person teilen, Küche und Badezimmer mit 5 anderen benutzen müssen und das in Coronazeiten. Danach reden wir nochmal.
Auch den Vorwurf des mangelnden Infektionsschutzes weisen Sie weit von sich, schließlich hätten Sie Masken und Desinfektionsmittel verteilt. Ja haben Sie, wenn auch ganz schön spät. Ebenso wie die Einrichtung eines Quarantänequartiers in der Breslauer Straße. Trotzdem müssen sich in den Unterkünften mehrere Personen ein Zimmer teilen sowie Dusche, Toilette und Küchenzeile. In Häusern wie der Carl-Giesecke-Straße sind zwar „nur“ 76 Plätze, aber dafür müssen sich noch mehr Personen ein Zimmer teilen und mit noch mehr Personen die Duschen und Toiletten, die dann einmal pro Tag gereinigt werden. Ähnlich katastrophal ist die Situation im Maschmühlenweg. Und nochmal für Sie: Entscheidend ist ein unfreiwilliger gesteigerter gegenseitiger Kontakt.
Schon in „normalen“ Zeiten sind fehlende Rückzugsmöglichkeiten und mangelnde Privatsphäre auf Dauer nicht auszuhalten. In Pandemiezeiten, wenn selbst die öffentlichen Orte geschlossen sind, ist das eine Katastrophe für jede Psyche.
Dem Göttinger Tageblatt gegenüber haben Sie gesagt, das Infektionsrisiko sei nicht höher als in einem Studi-Wohnheim. Das ist nun wirklich Stuss, Frau Broistedt. In einem Studi-Wohnheim hat jede*r ein eigenes Zimmer von 17-22 qm für sich ganz allein. Wer sich unsicher fühlt, kann zur Familie fahren oder zu Freund*innen. Das können Geflüchtete eben nicht.
Die Kritik an den Massenunterkünften, Frau Broistedt, wird nicht abbrechen, nur weil Sie orwellschen Neusprech benutzen. Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen. Vor allen Dingen sind wir in Kontakt mit vielen Geflüchteten, die uns immer wieder über die Missstände berichten.
Unsere Forderung ist nach wie vor: Massenunterkünfte schließen! Wohnungen für alle!
Göttingen, 5. Mai 2020, OM10