Ein ganz normaler Abend im OM10
Daran scheitert noch die Revolution!
Es gibt jetzt Cafènachmittage!
You want to drink tea?
Das ist meistens die erste Frage, die wir geflüchteten Menschen stellen, die nach 24.00 Uhr im Bahnhof Göttingen gestrandet sind. Diese Frage stellen wir Ende November in einer Nacht von Sonntag auf Montag auch einer Gruppe junger Männer. Die meisten von ihnen nehmen das Angebot dankend an. So kommen wir ins Gespräch.
Wir treffen uns abends um 23.00 Uhr im OM10. Wir beziehen die Betten neu, kochen Tee und packen unseren Korb mit Bechern, Zucker, Müsliriegeln und Bananen. Gegen 24.00 Uhr ziehen wir los zum Bahnhof. Mit uns unterwegs sind auch Dolmetscher für verschiedene Sprachen. Meistens wird arabisch und farsi benötigt. Mit englisch kommen wir aber oft auch zurecht.
Die jungen Männer in jener Sonntagnacht sprechen arabisch. Sie erzählen, dass sie aus der Nähe von Hannover kommen und nach Friedland wollen, um nach ihrem Anhörungstermin für das Asylverfahren zu fragen. Da ihr Zug Verspätung hatte, haben sie den letzten Zug nach Friedland verpasst. Der nächste Zug am Montag früh fährt erst nach 4 Uhr. Sie sind froh über das Angebot mit uns ins OM10 zu kommen, damit sie sich aufwärmen, etwas trinken und essen und sich unterhalten können.
Um eine andere Bank ist eine weitere Gruppe Flüchtlinge versammelt mit einer Mutter und ihrem Kind. Wir sprechen sie an. Sie sind sehr zurückhaltend und misstrauisch. Es sind Flüchtlinge aus dem Iran. Als wir sie auf Farsi anspreche verlieren sie langsam ihr Misstrauen. Wer weiß, was sie auf der Flucht alles erlebt haben. Schließlich sind sie einverstanden, mit uns ins OM10 zu kommen. Sie wollen weiter nach Hamburg und haben aufgrund der Zugverspätung ihren Anschlusszug verpasst.
Auf der Bank gegenüber sitzt ebenfalls eine größere Gruppe, auch in dieser Gruppe eine Mutter mit ihrem Baby im Arm. Dick in eine Wolldecke eingewickelt. Auch sie sind zunächst misstrauisch, fragen, wieviel Geld wir dafür wollen, dass sie mit uns kommen können. Auch sie sind Flüchtlinge aus dem Iran und wir können ihnen erklären, dass wir kein Geld dafür nehmen, sondern aus Solidarität unsere Hilfe anbieten.
Schließlich gehen wir gegen 1.00 Uhr alle gemeinsam ins OM10. Für so viele Menschen haben wir keine Betten. Die Gruppe mit dem kranken Baby kommt in zwei Zimmer mit Schlafmöglichkeit, die sie auch gerne nutzen. Für die andere Gruppe mit dem Kind werden Matratzen in den großen Aufenthaltsraum gelegt. Und die Gruppe junger Männer kann im kleineren Aufenthaltsraum auf den nächsten Zug warten.
Nachtruhe kehrt aber nicht so schnell ein. Einige haben großen Redebedarf. Sie wollen wissen, was das für ein Haus ist, warum wir nachts zum Bahnhof gehen und was wir sonst so machen. Ein iranischer Mann sagt zu uns: „das ist großartig, wenn ich meinen Aufenthalt bekommen habe, komme ich nach Göttingen und helfe euch.“
Ich fahre um 1.30 Uhr nach Hause. Ich muss am nächsten Tag arbeiten und muss noch ein wenig schlafen. Dafür kommen andere, die sich den Rest der Nacht um die Geflüchteten kümmern. Sie bringen sie am nächsten Morgen zum Zug, helfen ihnen die Verbindung rauszusuchen und ggf. Fahrkarten zu kaufen.
Zwei Tage später bekomme ich von der iranischen Mutter mit dem etwas älteren Kind eine Nachricht über what’s app: Sie ist dankbar für unsere Hilfe in jener Nacht. Inzwischen ist sie bei ihrem Ehemann und ihre Tochter ist glücklich, bei ihrem Vater zu sein. Sie hat uns in ihr Herz geschlossen und wird uns nicht vergessen.
Ein ganz normaler Abend im OM10
So gegen 17.00 Uhr komme ich ins OM10, wie so oft sind viele Menschen im Haus: einige kochen in unserer kleinen Küche, andere sitzen im Aufenthaltsraum und spielen Schach oder reden oder chillen einfach, manche sind auf dem Flur und diskutieren. Im Saal ist gerade Deutschunterricht. Im Keller suchen sich zwei Frauen im Umsonstladen Kleidungsstücke raus, die sie benötigen. In einem anderen Kellerraum werden Transparente gemalt. Vor der Tür unterhalten sich einige beim Rauchen.
Dann beginnt meine Arbeitsgruppe, davon gibt es so einige. Wir treffen uns heute abend, um über die massenhaften Abschiebungen in die sog. Balkanstaaten zu reden. Das ist ein sehr frustrierendes Thema. Die von der Regierung durchgesetzte Spaltung der Geflüchteten in „echte“ und „falsche“ Flüchtlinge scheint zu funktionieren. Gegen die Massenabschiebungen in den Kosovo und nach Serbien jedenfalls gibt es eher wenig Proteste.
Um 19.00 Uhr beginnt das Plenum. Viele Menschen, die sich mit der OM10 solidarisieren, treffen sich, um über viele Dinge, die das Haus betreffen zu diskutieren. Heute geht es z.B. um Themen wie Regeln, die für alle im Haus und für Gäste gelten sollen, die Fluchthilfe am Bahnhof, nächste Veranstaltungen und Weihnachten und Silvester. Mittendrin kommen ein Mann und eine Frau mit einem dringenden Anliegen. Die Frau ist aus Syrien. Sie braucht dringend einen Schlafplatz für einige Tage, sonst muss sie auf der Strasse übernachten.
Zwei Tage vorher hatten wir auf dem Plenum beschlossen, dass wir vorerst keine neuen Menschen im Haus aufnehmen. Der Platz wird eng und wir müssen erst neue Räume fertig renovieren. Trotzdem sind wir uns schnell einig – wir finden einen Raum, den die Frau erstmal beziehen kann.
Wir sitzen mit M. noch auf dem Sofa und reden. Sie ist ohne ihre Familie die ganze Balkanroute entlang nach Deutschland gekommen. Ihr Ehemann und die zwei Söhne sind noch in Alleppo in Syrien. Sie weint und macht sich große Sorgen um ihre Familie. Jetzt ist sie froh, dass wir sie aufgenommen haben. Hier kann sie etwas zur Ruhe kommen und findet Menschen, die ihr zuhören und ihr vielleicht weiterhelfen können. Am nächsten Tag sagt sie mir, dass sie die Nacht endlich mal wieder geschlafen habe. Hier fühle sie sich sicher.
Einkaufen – Essen – Kochen?
Ich habe beschlossen, dass ich heute mal das Kochen übernehme. Entschieden habe ich mich für Linseneintopf auf marokkanische Art. Rezept studieren, einkaufen und fröhlich ins OM10 kommen. Scheiße, die Küche ist noch nicht fertig. Vorgestern hatten Leute beschlossen, die Küche zu renovieren und trotz harter nächtlicher Arbeit ist sie noch nicht fertig.
Also wird ein Elektroherd im Aufenthaltsraum aufgebaut und einige Bänke als Tische umfunktioniert. Andere helfen mir das Gemüse zu schälen und zu schnippeln. So wird doch noch was aus dem Linseneintopf. Er hat allen geschmeckt.
Irgendwie funktioniert es doch immer im Haus. Und wenn mal nicht, dann ist es auch nicht so schlimm. Alles funktioniert, weil sich alle irgendwie um irgendwas kümmern und Verantwortung übernehmen. Ich wundere mich jeden Tag wenn ich kommen, was schon wieder alles verändert wurde und wie schön alles wird. Genauso ist es mit dem Essen und dem Kochen.
In den ersten Wochen hatten wir die Soliküche, die draußen vorm Haus ihren Kochstand aufgebaut hatten. Da gab es jeden Tag sogar zweimal warmes Essen. War das großartig. Jetzt müssen sich halt alle kümmern.
Immer wieder kommen auch solidarische Menschen vorbei und bringen uns Lebensmittel, oft auch größere Mengen. Wir sind viele Menschen im Haus und brauchen viele Lebensmittel. Auch die Gäste im Haus essen mit, das ist für alle selbstverständlich.
Gekocht wird dann, wenn sich Leute dafür finden. Manchmal gibt es auch kein warmes Essen. Dann ist das eben so. Manchmal kochen auch Gäste für alle im Haus, oder es kommen extra Menschen, die Lust haben, mal für alle zu kochen.
Die Küche ist jetzt längst fertig. Wer also Lust hat, mal für’s Haus zu kochen – kommt vorbei!
Daran scheitert noch die Revolution!
Das ist manchmal nicht auszuhalten: überall stehen benutzte Tassen, Gläser, Teller, Töpfe. Der Müll quillt über. Der Boden ist schmutzig. KANN DENN HIER NICHT MAL EINE+R AUFRÄUMEN??? Wer lässt denn einfach sein Geschirr stehen? Alle Appelle verhallen ungehört, so scheint es. Verzweiflung macht sich breit. Wir ersaufen noch im Dreck, so wird das nichts mit der Revolution!
Das gehört auch zum Alltag in der OMze. Zwar haben wir inzwischen eine Geschirrspülmaschine (danke an die Spender*innen), aber die muss ja auch ausgeräumt und wieder eingeräumt werden. Auch das passiert nicht von alleine. Geschweige denn das Tische abwischen oder gar den Fußboden fegen und wischen.
Es sind halt viele Leute in der Omze, die kommen und gehen. Und nicht jede*r fühlt sich für seinen/ihren Dreck auch verantwortlich. „ich muss noch meine mails checken und eben die Welt retten“, so heißt es doch in einem Lied, oder? So ist das auch bei uns. Transpis malen, Flyer und Pressemitteilungen schreiben, Demos organisieren, Arbeitsgruppen, Plenum… , da bleibt keine Zeit zum saubermachen. Ist ja kaum noch Zeit mal zu chillen.
Aber was passiert, wenn wir am Fußboden festkleben oder keine Teller mehr da sind? Dann ist nämlich Ende Gelände mit der Revolution.
Was ist für eine Nacht!
Was für eine Nacht, ich bin völlig fertig. Und trotzdem werde ich weitermachen!
Ich hatte mal wieder für die Fluchthilfe am Bahnhof eine Schicht übernommen, diesmal auch für die „Betreuung“ wie wir es nenne. D.h. bis zum nächsten Morgen, wenn alle Geflüchteten wieder on the road sind. Um 23.00 Uhr komme ich in die OM10 zur Vorbereitungsschicht: Betten frisch beziehen, Tee kochen, Korb packen mit Bechern, Zucker, Müsliriegel und Bananen. Zucker brauchen alle Geflüchteten am Bahnhof in ihren Tee, das gibt wieder ein bisschen Energie. Müsliriegel und Bananen beruhigen den Magen und helfen ebenfalls beim auftanken und warm werden.
Wir plaudern noch ein wenig mit den anderen Leuten in der OM10 und gegen 23.30 Uhr geht es los zum Bahnhof. Wir sind zu dritt. Einer der Bewohner aus der OM10, ein Geflüchteter aus Syrien, kommt mit und kann arabisch-englisch übersetzen. Es hilft enorm, wenn jemand mit zum Bahnhof kommt, der/die noch eine andere Sprache spricht als englisch und deutsch.
Mittlerweile treffen wir dort auch die Ehrenamtlichen von der Bahnhofsmission, die ebenfalls Tee und Decken für Geflüchtete haben. Wir verstehen uns gut mit ihnen. Es gibt keine Konkurrenz. Wir ergänzen uns gut, denn was sie nicht zur Verfügung haben, sind Betten und ein Haus zum Aufwärmen. Wir unterhalten uns kurz über Neuigkeiten und unsere Erlebnisse oder Erfahrungen. Dann übernehmen wir sozusagen die Spätschicht am Bahnhof.
Ein einzelner junger Mann sitzt auf einer Bank. Wir sprechen ihn an, geben ihm Tee. Er ist sehr zurückerhaltend, erzählt, dass er aus Afghanistan kommt. Er war in Regensburg, um einen Familienangehörigen zu besuchen, nun ist er auf dem Rückweg nach Friedland und hat den letzten Zug verpasst. Er will mit in die OM10 kommen. Immer wieder hören wir Geschichten darüber, wie Familien auf der Flucht getrennt werden, sich in Deutschland wiederfinden, aber nicht zusammen wohnen dürfen, weil sie getrennt umverteilt worden sind. Eine Umzugsgenehmigung zu bekommen ist total schwer.
Mit dem nächsten Zug kommt eine kleine Gruppe von drei jungen Männern. Sie sind aus Syrien geflohen. Zwei von ihnen sind in einen kleinen Ort im Wendland untergebracht. Sie wollen ihren Freund nach Friedland bringen, damit er dort seinen Asylantrag stellen kann. Der Freund ist total übermüdet. Seit zwei Nächten hat er nicht geschlafen. Auch sie kommen mit ins Haus.
Als wir losgehen ist es ungefähr 1.00 Uhr. Mit uns kommt noch ein älterer Mann, er will nach Freiburg, außerdem zwei junge Männer aus Somalia, die weiter nach Hannover wollen. Sie alle haben ihren Anschlusszug verpasst und müssen bis morgens um 4.00 oder 5.00 Uhr warten, bevor der nächste Zug fährt.
7 Geflüchtete also, die diese Nacht mit uns in ourhouse kommen. Die Anzahl ist jede Nacht anders, manchmal gibt es auch niemanden. Meistens sind es zwischen 5 und 10. Es gibt aber auch Nächte, da sind es zwischen 15 und 25.
Die beiden Somalier sind völlig übermüdet, sie legen sich schnell schlafen, ebenso wie der ältere Mann. Der junge Mann aus Afghanistan trinkt noch in Ruhe einen Tee und isst etwas. Er redet wenig, möchte einfach seine Ruhe. Er geht auch bald schlafen.
Die drei jungen Freunde aus Syrien dagegen sind total aufgedreht, sie kommen nicht zur Ruhe. Erzählen von ihren Familien, ihrem Leben in einem Dorf im Wendland und ihren Wünschen. Der eine Mann hat in Syrien Biochemie studiert, er möchte gerne weiterstudieren. Ich erzähle ihm von den Gasthörerprogrammen für Geflüchtete an den Unis. Wir suchen die Adresse der Studienberatung in Bremen und Hamburg raus, dort will er sich möglichst bald beraten lassen.
Der zweite Mann hat Geschichte in Syrien studiert und als Dozent gearbeitet. Auch er möchte möglichst schnell hier weitermachen.
Der dritte junge Mann schwankt zwischen Überdrehtheit und Erschöpfung. Er hat nicht studiert, hat kaum eine Schulbildung genossen und hat noch keine weitergehenden Pläne. Erstmal den Asylantrag stellen und in Sicherheit sein. Gegen 3 Uhr sind schließlich alle am schlafen.
Ich lege mich auf ein Sofa. Stelle meinen Handywecker auf 3.45 Uhr. Die ersten wollen um 4.09 den frühsten Zug nehmen. Die beiden Somalier sind schon wach als mein Handy klingelt. Sie trinken noch schnell einen Kaffe und sind dann verschwunden. Der junge Mann aus Afghanistan steht auch schnell auf und verlässt uns wieder. Die drei jungen Syrer sind schwerer wachzukriegen. Als die zwei aus dem Wendland endlich auf sind, schaffen sie es doch ihren jungen Freund zu wecken. Gegen 6 Uhr gehen sie zum Bahnhof, um nach Friedland weiterzufahren. Der ältere Mann, der nach Freiburg will, ist der letzte. Er trinkt mit mir noch Kaffee und erzählt aus seinem Leben. In Freiburg hat er einen guten Freund aus der Heimat, den er besuchen möchte.
Als er gegen 7 Uhr geht, habe ich endlich frei und bin total fertig. Ich fahre nach Hause, lege mich ins Bett und schlafe sofort ein. Ich werde noch einige Tage brauchen, bis ich diese Nacht ohne Schlaf überwunden habe. Trotzdem – das ist es wert. Die Vorstellung, dass diese Menschen in der Kälte auf dem Bahnhof übernachten müssen, ist nicht auszuhalten. Deshalb gehen wir alle doch immer wieder nachts zum Bahnhof.
Es gibt jetzt Cafènachmittage!
Bisher Dienstags und Freitags von 15 – 18 Uhr.
Freitag 15.00 Uhr: der Kaffe läuft – das Teewasser kocht – Kuchen wird ausgepackt – die ersten Leute kommen… Schnell wird es voller. Im großen Raum wird Siebdruck gemacht. Daneben kickern ein paar Leute lautstark. Auf den Sofas sitzen Leute und unterhalten sich. In einer Ecke wird Schach gespielt. Es ist gemütlich und lebhaft, beides zusammen. Gleichzeitig finden im Haus noch diverse Arbeitsgruppen statt. In der kleinen Küche wird gekocht.
Das Schöne: es ist egal, woher jemand kommt, welche Muttersprache er/sie hat oder welchen Pass. Alle reden miteinander: mal auf englisch, auf persisch oder arabisch oder türkisch, auf deutsch, mit Händen und Füßen – es ist ein buntes Durcheinander und alle verstehen sich doch irgendwie.
Also kommt ruhig vorbei!