Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Köhler,
schon mehrmals versuchten verschiedene Initiativen, die unzumutbaren Unterbringungsverhältnisse der Flüchtlinge im Lager Siekhöhe bekanntzumachen, um auf eine Verbesserung der Situation hinzuwirken. Leider beschreiben sowohl Sie als auch der Betreiber, das Deutsches Rote Kreuz, die Situation in der Unterkunft als „gut“. Weil wir die aus unserer Sicht menschenunwürdige Unterbringungssituation in der Siekhöhe nicht länger hinnehmen und die Lebensbedingungen der Geflüchteten verbessern wollen, schreiben wir – Bürger*innen, freiwillige Helfer*innen und Aktivist*innen – diesen Brief.
In der ehemaligen Industriehalle im abgelegenen Gewerbegebiet Siekhöhe in Göttingen sind momentan ca. 130 Geflüchtete untergebracht, insgesamt sollen sogar bis zu 400 Menschen dort Platz finden. Da das Gebäude nicht über Fenster verfügt, werden die Wohnboxen von 6 bis 22 Uhr mit Kunstlicht geflutet. Die Wohnparzellen, in denen bis zu 14 Personen zusammen leben, sind nach oben offen und bieten keinen Rückzugsort vor der Geräuschkulisse oder der Dauerbeleuchtung.
Das Essen wird von einer Cateringfirma zubereitet, weshalb die Bewohner*innen dort nicht selber kochen dürfen. Das gemeinsame Kochen ist für viele Geflüchtete jedoch ein wichtiger Bestandteil ihres Alltags. Die Kosten für das Catering werden vom Geld für den Lebensunterhalt abgezogen, sodass die dortigen Bewohner*innen deutlich weniger Geld zur Verfügung haben.
Seit Inbetriebnahme des Lagers Siekhöhe halten ehrenamtliche Unterstützer*innen und Aktivist*innen Kontakt zu dort untergebrachten Geflüchteten. Diese berichten immer wieder, dass die nach oben offenen Räume, die Lautstärke in der Lagerhalle und das Zentrallicht auf Dauer psychisch schwer belastend und für einige Menschen unerträglich sind. Dies äußert sich darin, dass einige Menschen sehr träge werden, andere unruhig und laut. Eigentlich sind alle nervös. Es ist zu erwarten, dass sich die Situation in der anstehenden dunkleren und kühleren Jahreszeit weiter verschlechtern wird, da die Ausweichmöglichkeiten ins Freie dann kaum mehr bestehen. Ein Mann berichetet, dass er nicht weiß, wie lange er es in so einem Lager aushalten kann. Er ist sehr verzweifelt, sein Lebensmut sinkt. Ein Weiterer formuliert es noch deutlicher: „Mit dem Siekhöhe-Camp machen einige bestimmt ein gutes Geschäft, aber für Menschen ist es nicht geeignet. Die Siekhöhe ist für uns wie ein Gefängnis.”
Für Kinder ist die Siekhöhe überhaupt nicht angemessen. Gerade kleinere Kinder und Säuglinge können aufgrund der Licht- und Lärmkulisse ihren Bedarf an Schlaf, der deutlich über dem von Erwachsenen liegt, nicht decken. Auch die schulpflichtigen Grundschulkinder, die morgens sehr früh aufstehen müssen, um rechtzeitig zum Schulbeginn in ihrer Grundschule, beispielweise in Weende zu sein, können nichtausreichend lange schlafen. Zudem ist die konzentrierte Anfertigung der Hausaufgaben bei dem Geräuschpegel nur schwer vorstellbar.
Die Unterbringung in einem Gewerbegebiet am äußersten Stadtrand macht eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nahezu unmöglich. Auch wenn das DRK ernsthaft bemüht ist für abwechselungsreiche Beschäftigungsmöglichkeiten zu sorgen, ersetzt dieses nicht die Partizipation an gemeinsamen Aktivitäten mit der Göttinger Bevölkerung. Der Besuch von Sportvereinen, Gespräche mit Nachbar*innen oder selbst die Teilnahme an Kindergeburtstagen werden erschwert.
Kaum soziale Kontakte, Isolation statt Integration, fehlende Privatsphäre, Ungewissheit, Stress und unzumutbare Lebensbedingungen – das ist die Realität der Massenunterkunft in der Siekhöhe. Trotz aller Proteste und Kritik halten Stadt und Betreiber jedoch weiter an der Aussage fest, dass die Siekhöhe als Unterkunft für die ganze Dauer des Asylverfahrens geeignet sei und sich die Menschen dort sehr wohlfühlen. Wie allgemein bekannt, kann sich ein Asylverfahren unter Umständen über Jahre hinziehen.
Wir Göttinger Bürger*innen wollen Geflüchtete, die aus Repression, Krieg, Armut, unsicheren, bedrohlichen und diskriminierenden Lebensverhältnissen geflohen sind und in Europa oft wieder unmenschlich behandelt werden, willkommen heißen, ihnen Respekt entgegenbringen und ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Wir wollen Geflüchtete unter uns in der Mitte der Gesellschaft haben, damit wir uns gegenseitig gut kennen lernen und gemeinsam unser Zusammenleben gestalten können. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Stadt sich bemüht, mit Wohnungsbaugesellschaften, Wohnungseigentümer*innen und engagierten Flüchtlingsinitiativen eine Zusammenarbeit zu entwickeln, welche sich die menschenwürdige Unterbringung und Partizipation von Flüchtlingen am öffentlichen Leben zur Aufgabe macht. Leider ist dies bis jetzt nicht der Fall. Aus unserer Sicht ist die Flüchtlingsunterbringung inzwischen ein reines Geschäft geworden, bei dem einige Unternehmen, private Vermieter und Makler aus der Not der Menschen Profite machen.
Wir fordern in Göttingen bessere Lebens- und Integrationsbedingungen für Geflüchtete!
Dafür erachten wir folgendes als unbedingt notwendig:
– Schließung der Sammelunterkunft Siekhöhe
– Belegung des zahlreichen Leerstands, unter anderem in Grone, durch Geflüchtete und andere Wohnungssuchende
– Förderung des sozialen Wohnungsbaus
– Einhaltung des üblichen Wohnstandards beim Neubau von Unterkünften
– Einsatz der Stadt gegen die mit dem Integrationsgesetz geplante Wohnsitzbindung
Mit freundlichen Grüßen
Bürger*innen & freiwillige Helfer*innen & Aktivist*innen & Organisationen
Göttingen, den 12.09.2016
Unterstützende Gruppen (alphabetisch):
AStA Uni Göttingen
Ak Asyl Witzenhausen
AK Asyl Göttingen
Antifaschistische LINKE Ratsfraktion
Beratungs und Aktionszentrum Friedland (baz)
Basisdemokratische Linke Göttingen
DGB Jugend SüdniedersachsenHarz
femko
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Initiative Große Breite
Initiative Willkommen Flüchtlinge am Klausberg (IWF)
Jusos Göttingen
Kreisverband DIE LINKE
Lampedusa Bündnis Göttingen
Medizinische Flüchtlingshilfe Göttingen
Our House OM 10
Roma Center Göttingen e.V.
Schöner Leben Göttingen
Vernetzungstreffen Voigtschule
Wähler*innengemeinschaft Göttinger Linke
women in exile & friends
Wohnrauminitiative Göttingen
YXK Verband der Studierenden aus Kurdistan in Göttingen
Unterstützende Einzelpersonen (nach Datum):
Annette Ramaswamy
Mohan Ramaswamy
Joachim Hahn
Björn Hillebrecht
Brigitte Ebert
Patrick Humke, Ratsherr der Antifaschistischen LINKE
Lydia Hans
Sarah Kuschel
Marina Timofeeva
Ekaterina Ivanova
Olga Ivanova
George Torosyan
Ahmat Abo Uwimer
Gabriela Temphaldova
Prof. Sabine Hess, Migrationsforscherin an der Universität Göttingen
Sabrina Freyer
AnnaMaria Kurz
Tobias Schnaubelt
Maria Gaponova
Olga Abramova
Gulnara Alieva
Nezachat Alieva
Arifullah Zachran
Mohammad Sharif
Safi Yousag
Alsadi Yesef
Sobharulla
Taria Ramesi
Quduat Said
Shinwari Abduhlla
Asadullah Ibrahim
Rawai Dajin
Vincent Akkermann
Markus Beyer
Rashelle Bischof
Henry Böttcher
Alexander Rex
Mona Jenke
Romy Rentsch
Yannick Kasten
Vanessa Hillebrecht
Kim-Michelle Genz
Sara Wolf
Henrike Hacher
Malte Steinhaft
Janna Rudi
Carina Reinhardt
Anna Lena Suttrus
Pia Schmidt
Paula Sawatzki
Svenja Knauf
Meike Nimtz
Julia Reese
Arieke Apel
Paul Stelzer
Celina Grumme
Maria Klossok
Milena Sieling
Franziska Friede
Corwin Sandiford
Inga Appel
Patrick Porjak
Max Rath
Nils Schimkomick
Uta Böttcher