Rückblick – Ist-Zustand – Ausblick
Vor einem Jahr, am 5. November 2015, wurde das ehemalige DGB Gebäude in der Oberen-Masch-Straße 10 in Göttingen besetzt. Zeit, das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen und einen Ausblick zu wagen.
Die Situation im letzten November war verheerend: Das Erstaufnahmelager in Friedland war um ein fünffaches überbelegt, und es kamen immer mehr Menschen in Göttingen an. Als einzige Lösung wurden von offizieller Seite nur Massenunterkünfte forciert, die ein menschenwürdiges Ankommen und Wohnen unmöglich machen. Dagegen wurde weiterhin der Leerstand von etlichen Häusern und Wohnungen auch in Göttingen ignoriert und toleriert. So ließ auch der DGB sein Bürogebäude auf dem Platz der Synagoge seit sechs Jahren ungenutzt und leerstehen. Uns war klar, dass wir hier vor Ort eine Intervention und auch eine Alternative schaffen wollen.
Am 5. November besetzten wir das Gebäude, bauten vor den Türen Infostände auf, verteilten Flyer an unsere neuen Nachbar*innen und informierten die Öffentlichkeit und den DGB auf Regional- und Bundesebene über unseren Einzug.
Zweimal täglich gab es mehrstündige Plena, außerdem mehrere Sicherheits- und Orgaschichten. Inzwischen haben sich zwei Plenas in der Woche etabliert und die Sicherheitsschichten werden nur noch zu gegebenen Anlässen aufgestellt. Organisiert wird noch sehr viel, aber nicht mehr in Schichten, sondern in den verschiedenen Arbeitsgruppen.
Gleich in der ersten Nacht wurden am Bahnhof gestrandete Geflüchtete eingeladen, die Nacht im trockenen und warmen in der OM10 zu verbringen, und die Fluchthilfegruppe gründete sich. In einem Jahr Besetzung konnten so über 700 Geflüchtete die Nacht anstatt am Bahnhof in der OM10 bleiben. Auch hier hat sich Einiges geändert. Es stranden nicht mehr so viele Geflüchtete, die Hilfe benötigen, und vor allem haben sich ihre Ziele geändert. Die meisten Menschen sind auf der Durchreise zu Freund*innen oder Verwandten, die oft weit weg von ihnen untergebracht wurden. Aber immer wieder gelingt die Weiterfahrt nach nächtlichem Stopp nur mit unserer logistischen oder finanziellen Unterstützung. Zudem fallen zunehmend gesundheitlicher oder rechtlicher Hilfebedarf auf. Hier vermitteln wir an die Medizinische Flüchtlingshilfe, Refugee-Law-Clinik, das Migrationszentrum oder auch direkt an Fachanwält*innen.
Außerdem konnten sich verschiedene andere Projekte in der OM10 etablieren: zwei mal wöchentlich gibt es Café-Nachmittage, es finden Deutschkurse statt, es gibt Beratungsangebote zum Thema Asylverfahren, wöchentlich kocht eine Soliküche, Geflüchtete können Gutscheine gegen Bargeld eintauschen. Wir sind in antirassistischen und antifaschistischen Themen und Aktionsbündnissen aktiv. Der Veranstaltungssaal wird für Gruppentreffen und verschiedenste politische und kulturelle Veranstaltungen genutzt. Auch überregionale Treffen fanden und finden in der OM10 statt.
Direkt nach dem Einzug haben wir mit ersten Renovierungsarbeiten begonnen: Neben dem einfachen Streichen von Wänden wurden auch schon einzelne Wände rausgerissen und an anderen Stellen Neue gezogen. In etlichen Zimmern wurden Fußböden neu verlegt. Eine Dusche wurde gebaut und zwei andere repariert, Küchen gebaut und Wasseranschlüsse verlegt. Durch die zahlreichen Möbel- und Sachspenden konnten alle Zimmer recht wohnlich eingerichtet werden.
So füllte sich das Haus sehr schnell mit Menschen, die hier eine vorläufige Bleibe finden konnten. Und nach und nach entstanden verbindliche Wohn- und Lebenszusammenhänge, die heute einen festen Stamm an Bewohner*innen ausmachen. Besonders schön entwickelt sich das Zusammenleben und die Zusammenarbeiten von Geflüchteten und Menschen ohne Fluchterfahrung. In unserer politischen Arbeit stehen wir uns gegenseitig mit Einfühlungsvermögen, Engagement, eigenem Fluchtwissen und unterschiedlichen Sprachkenntnissen zur Seite. So wachsen wir zu einem Team zusammen, das aus Bewohner*innen unterschiedlicher Kulturen, aus Nachbar*innen, Unterstützer*innen und aus „klassischen“ Linksradikalen besteht. Wir diskutieren stundenlang teilweise in drei oder vier verschiedenen Sprachen auf Plenas, streiten und finden doch in den meisten Fällen eine Lösung. Wir haben hier Freund*innen gefunden.
Unmittelbar nach der Besetzung hat Hartmut Tölle als Bezirksvorsitzender des DGB Niedersachsen zu uns Kontakt aufgenommen. Dabei hat er aber mehr mit Drohungen um sich geworfen als konstruktive Gespräche zu beginnen. Dies gipfelte in den unsäglichen rassistischen Äußerungen gegenüber der Presse, die das Fass auch für viele solidarische Göttinger*innen überlaufen ließen. Eine noch breitere Welle der Solidarität zwang DGB und VTG zum Einlenken. Der ehemalige Göttinger DGB-Vorsitzende Sebastian Wertmüller wurde von beiden Seiten als Moderator von Verhandlungsgesprächen akzeptiert. Außerdem fand sich eine Gruppe von aktiven Göttinger Gewerkschafter*innen zusammen, um den DGB bei den Verhandlungen kritisch zu beobachten und unser Projekt zu unterstützen. Nach insgesamt fünf Verhandlungsrunden, die nicht immer einfach waren und auch mehrmals zu platzen drohten, konnten wir uns letztlich doch auf einen Kauf des Gebäudes und des Grundstücks verständigen. Besonders unser Ziel, dass mit diesem Haus keine Spekulationen möglich sein sollen, war auch für eine gütige Einigung hilfreich.
Der vereinbarte Kaufpreis ist ein politischer Preis, der sich nicht am Immobilienmarkt, sondern am politischen Charakter des Projektes orientiert. Er berücksichtigt einerseits unsere begrenzten finanziellen Möglichkeiten. Zum anderen trägt der Preis einer Situation Rechnung, die geprägt ist durch dringend benötigten bezahlbaren Wohnraum in Göttingen, das Ziel der nichtkommerziellen Nutzung sowie die breite solidarische Unterstützung für unser Projekt .
Mit der Besetzung haben wir ein Haus mit linker, auch widerständiger Tradition reaktiviert. Wir wollen die Obere-Masch-Straße 10 wieder als Adresse des Politischen Zentrums, des Raums für Veranstaltungen, Selbstorganisation, Protest gegen Leerstand und Projekte wie die Fluchthilfe wissen, die sich um aktuelle Bedarfe kümmern. Und außerdem entsteht hier bezahlbarer und selbstverwalteter Wohnraum für Geflüchtete und andere von Wohnungsnot betroffene Menschen.
Seit Bestehen der Besetzung haben sich sehr viele Menschen mit der OM10 solidarisiert und auch praktische Unterstützung geleistet, die für das Gelingen des Projekts elementar war und immer noch ist. An dieser Stelle auch mal ein dickes Dankeschön an all die Menschen, die Lebensmittel und Möbel vorbeigebracht haben oder für die OM10 gespendet haben, an die solidarischen Nachbar*innen, an die solidarischen Handwerker*innen und die vielen Engagierten in der Fluchthilfegruppe, an die, die seit Monaten die Bettwäsche der Fluchthilfe waschen. Ohne diese vielfache Unterstützung wäre die OM10 nicht das soziale und politische Projekt, das jetzt verstetigt und weiterentwickelt werden kann.
Heute können wir stolz verkünden: Wir werden die OM10 kaufen! Das ist ein riesiger Erfolg!
Gleichzeitig heißt das aber auch: Jetzt geht die Arbeit erst richtig los:
Damit sich die hier Wohnenden demnächst offiziell in der OM10 anmelden können, um beispielsweise Gelder zu beantragen oder Post direkt nach Hause empfangen zu können, muss das Haus als Wohngebäude anerkannt werden. Hierfür sind umfangreiche Sanierungsarbeiten erforderlich. Neue Fenster, Fassadenisolierung, neue Elektrik und vielfache Sanierung von Wasser- und Abwassersystem stehen an. Wir planen für das nächste Frühjahr eine Sommerbaustelle, aber auch jetzt schon braucht es helfende Hände und Menschen mit Know-how.
Und für all diese Vorhaben werden wir viel Geld benötigen. Sicher werden wir um Bankenkredite nicht herum kommen. Um aber den Kauf und die Sanierung stemmen zu können, suchen wir jetzt Menschen, die sich vorstellen können, Direktkredite an uns zu vergeben. Dadurch würde das Projekt nur mit niedrigeren Zinssätzen belastet und die Unterstützer*innen erhalten die Möglichkeit einer transparenten, sozialen und ökologischen Geldanlage. Auf diese Weise werden wir sichern, dass die OM10 auch langfristig als günstiger Wohnraum in Selbstverwaltung zur Verfügung steht und nicht mehr mit dem Gebäude spekuliert wird. Gegen die erdrückenden Zustände und die alltägliche Reglementierung in den Lagern soll hier die Möglichkeit des selbstbestimmten Lebens und Wohnens gesetzt werden.
Als antirassistisches Wohnprojekt will die OM10 Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus eine Bleibe schaffen. Das gilt natürlich besonders auch für jene, denen staatlicherseits jegliches Recht hier zu leben abgesprochen wird. Diese Personen können auf keinerlei staatliche Hilfen zählen und sind einer krassen existentiellen Ungleichbehandlung ausgesetzt. Mithilfe von Wohnpatenschaften, bei denen solidarische Spender*innen anteilig Wohnraum gegenfinanzieren, soll Wohnraum für sie vorbehalten werden.
Wenn wir jetzt an der Legalisierung der OM10 arbeiten, so bleibt für uns klar: Gemeinsam stellen wir uns weiterhin gegen rassistische Asylpraxen, menschenverachtende Hetze und unwürdige Lebensbedingungen. Wir bestreiten gemeinsam und solidarisch den Alltag. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Lagerunterbringung, den unsäglichen Bedingungen in der Siekhöhe, wo bis zu 400 Personen in einer ehemaligen Industrielagerhalle am äußersten Stadtrand zusammengepfercht leben müssen, wollen wir für ein menschenwürdiges Wohnen eintreten. Es ist unerträglich, dass immer noch Wohngebäude in der Innenstadt und in Grone leerstehen und nicht genutzt werden. Wir werten die Besetzung und Nutzbarmachung der OM10 als ein Zeichen, dass solche Aktionen gelingen können, notwendig sind sie auf jeden Fall.
Wir schicken Soligrüße an andere solidarische Projekte, an die Squats in anderen Städten und Ländern und Kraft und Mut an Menschen, die gerade vielleicht kurz vor ähnlichen Aktionen stehen!